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Ursachen von Überdosierungen am Beispiel von MDMA
Frank Sembowski, 18. Juni 2017
Schlagwörter: Überdosierung, MDMA, Schwarzmarkt, Wirkstoffgehalt, LD50
Korrespondenz an: frank.sembowski@substanz.info
Anlass zu diesem Blogbeitrag ist der Tod eines 15-jährigen Mädchens, das 2015 an einer Überdosis MDMA starb, obwohl sie nicht nur frühe Erfahrungen mit MDMA gesammelt, sondern sich auch im Internet gezielt über eine möglichst risikoarme Einnahme informiert hatte.1 Bei auf dem Schwarzmarkt erworbenem Stoff bleiben Reinheitsgehalt und Wirkstoffmenge ungewiss; ohne Zweifel erhöht die Prohibition die Gefahr einer lebensbedrohlichen Fehldosierung. Mir als Beobachter fiel zudem auf, dass die Angaben zur Dosierung von psychoaktiven Substanzen in der Literatur oftmals unpräzise, zumindest ausgesprochen missverständlich sind. Im Folgenden möchte ich erläutern, wie stark einzelne Faktoren zum Gesamtrisiko beitragen und wie man für eine Person zu einer präziseren Risikobewertung und zu einer defensiveren Dosierung gelangt.
MDMA (3,4‑Methylendioxy-N-methylamphetamin) ist die ideale Substanz, um auf die Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten aufmerksam zu machen, die mit der Bestimmung der Gebrauchsdosis von auf dem Schwarzmarkt erworbener Ware verbunden sind. Im Vergleich zu anderen Substanzen kann bereits eine relativ geringe Überdosierung oder Fehlinterpretation bei der Anwendung tödliche Folgen haben. Das unterscheidet MDMA beispielsweise von dem in Cannabis enthaltenen THC. Für eine lebensgefährliche Dosis müsste man das 1000-Fache der üblichen Konsummenge verzehren, was unmöglich erscheint, wenn in der Praxis ausschließlich auf natürliche Cannabisprodukte zugegriffen wird. Aus diesem Grund ist beim Menschen bisher kein Fall einer tödlichen Überdosierung durch Aufnahme natürlicher Cannabisprodukte bekannt geworden.2
Seit Jahrzehnten erfreut sich MDMA in Deutschland größter Beliebtheit. Es ist synthetischen Ursprungs und kann in extrem hoher Reinheit vorliegen. Es wird illegal in Form von Tabletten, Kapseln oder als weißes, kristallines Pulver vertrieben. Erwartungsgemäß schwankt der Reinheitsgrad des auf dem Schwarzmarkt gehandelten MDMAs von Tag zu Tag und von Marge zu Marge ganz erheblich. Häufig enthalten die Präparate weitere psychoaktive Stoffe, die wahrscheinlich für einige extreme und noch nicht endgültig geklärte Nebenwirkungen verantwortlich sind. Als mittlere letale Dosis (LD50*) der reinen Substanz nimmt man für den Menschen 10 bis 20 mg pro kg Körpergewicht an.3 Weil diese Angabe auf Schätzungen (beispielsweise auf allometrischer Skalierung**) beruht, ist sie mit Unsicherheit behaftet. Keinesfalls darf man sie als Obergrenze interpretieren, unterhalb derer der Gebrauch sicher wäre!
*) Die mittlere letale Dosis oder LD50 ist ein Maß für die Toxizität eines Stoffes. Sie gibt die Dosis an, bei der die Hälfte der Population stirbt.
**) Unter allometrischer Skalierung versteht man hier die Extrapolation der Dosisabhängigkeit, sodass man, bezogen auf die Wirkung eines Stoffes, Aussagen über experimentell nicht zugängliche Populationen treffen kann.
In der Literatur findet man unterschiedliche Aussagen über eine durchschnittliche Gebrauchsdosis. Die Shulgins legen einen Bereich von 80 bis 150 mg pro Person fest.4 Ralph Metzner setzt die Untergrenze etwas niedriger an; er spricht von 60 bis 150 mg pro Person5, was annähernd mit der Angabe für eine mittlere Dosis auf der Erowid-Webseite6 übereinstimmt. Ob der Dosierungsbereich dem Körpergewicht einer Person oder der Empfindlichkeit gegenüber der Substanz (oder beidem) geschuldet ist, lassen die Autoren offen. Spontan wüsste man auch nicht, auf welches Körpergewicht (oder Körpervolumen) sich der Mittelwert bezöge. Darüber hinaus bleiben andere Merkmale wie Körperfettanteil, Geschlecht, Alter, Ethnie oder temporärer Flüssigkeitsverlust durch Schwitzen als Bestimmungsgrößen für die korrekte Dosierung oft unberücksichtigt, obwohl sie pharmakokinetisch relevant sind. Beispielsweise erreichen Amerikaner schwarzafrikanischer Abstammung (bei gleichem Körpergewicht) im Vergleich zu Weißen eine höhere maximale MDMA-Konzentration im Blutplasma.7 Ähnliches gilt für Frauen bei niedrigen, wahrscheinlich aber nicht bei hohen Dosen. Frauen scheiden MDMA zudem merklich langsamer aus als Männer.8
Für das Weitere berufe ich mich auf die folgenden Ausgangsüberlegungen:
- Ich nehme an, dass die obige Angabe der LD50 von einem durchschnittlichen Körpergewicht von 75 kg ausgeht.9
- Für die anschließenden Berechnungen ziehe ich das Blutvolumen dem Körpergewicht als Bezugsgröße vor.* Das Blutvolumen beträgt bei erwachsenen Männern 77 ml/kg Körpergewicht ± 10 Prozent und bei Frauen 65 ml/kg Körpergewicht ± 10 Prozent.10
- Ich gehe davon aus, dass sich Tabletten mit hohen MDMA-Mengen und fast reines MDMA-Pulver im Umlauf befinden. Für Tabletten lege ich den Bereich auf 80 bis 300 mg11 fest.
- Häufig wird MDMA in Klubs oder auf Partys eingenommen. Tritt während des Tanzens starker Flüssigkeitsverlust auf, kann die Blutmenge temporär um 25 bis 40 Prozent vermindert sein. Dem trage ich als Begleitumstand Rechnung.
- Zusatzstoffe (Streckmittel oder psychoaktive Additive zur Erzielung einer spezifischen Wirkung) bleiben unberücksichtigt.
*) Vermutlich kompensiert der höhere Gewebefettanteil von Frauen das niedrigere Blutvolumen teilweise, sodass eine bestimmte Menge MDMA gebunden und stark verzögert freigegeben wird. Da die pharmakokinetischen Sachverhalte bisher nicht abschließend geklärt sind, dient mir das niedrigere Blutvolumen von Frauen als Sicherheitspuffer.
Betrachten wir jetzt ein konkretes Szenario: Eine junge Frau weist ein Körpergewicht von 55 kg auf und möchte eine Dosis von 125 mg MDMA konsumieren. Laut Erowid-Webseite (Stand: Juni 2017) läge das innerhalb der Spanne einer gewöhnlichen Dosis. Den MDMA-Gehalt der Tabletten schätzt die Frau (aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen) auf 100 mg. Weil sie an diesem Abend nicht unterdosieren will, nimmt sie statt einer einzigen Tablette gleich anderthalb Tabletten ein. 150 mg MDMA wären (gemäß den oben genannten Quellen) noch im Bereich des Üblichen, wenn auch an der Grenze zur hohen oder dissoziativen Dosis. Das Risiko der Überdosierung von zusätzlichen 25 mg geht die Frau bewusst ein.
Nun hat die Konsumentin bei dieser Gelegenheit fatalerweise sehr hoch dosierte Tabletten (mit je 300 mg MDMA) bekommen, weswegen anderthalb ihrer Tabletten nicht 150, sondern 450 mg MDMA entsprechen. Legt man Geschlecht und Blutvolumen für die Berechnung der LD50 zugrunde, erhält man für diese relativ leichte Person die LD50 von 504 bis 1007 mg:
- Wie oben vorgestellt, schätzt man die LD50 des Menschen auf 10 bis 20 mg/kg Körpergewicht (Männer und Frauen).
- Das durchschnittliche Blutvolumen bezogen auf Männer und Frauen beträgt 71 ml/kg Körpergewicht, womit sich die LD50 von 10 bis 20 mg pro 71 ml Blut oder 140,845 bis 281,690 mg pro Liter Blut innerhalb der erwachsenen Gesamtbevölkerung ergibt.
- Eine Frau mit einem Körpergewicht von 55 kg besitzt 55 kg · 65 ml/kg gleich 3575 ml Blut. Hieraus lässt sich die LD50 für diese Person auf 504 bis 1007 mg MDMA bestimmen.
Bedingt durch intensives Tanzen in der warmen Klub-Umgebung kann es zu starker temporärer Dehydrierung kommen. Wie man an den obigen Zahlen ablesen kann, bringt dies die Frau aufgrund des damit einhergehenden gesunkenen Blutvolumens zusammen mit der ungewollten, massiven Überdosierung in die Nähe einer lebensbedrohlichen Dosis. Ein vergleichbares Szenario träte ein, wenn sie zur Verlängerung der Party mit Abklingen der Wirkung nach zuerst einer Tablette eine zweite Tablette deutlich zu früh einnähme.
Man vermutet, dass sich der eingangs geschilderte Fall des verunglückten Mädchens ähnlich abspielte, wobei es keine Tabletten, sondern MDMA-Pulver unerwartet hohen Reinheitsgrades konsumierte. Ihre Dosis belief sich schätzungsweise auf 500 bis 1000 mg MDMA.
Man erkennt daran, dass in einigen Konstellationen der auf dem Papier bestehende Sicherheitspuffer für MDMA (man spricht von therapeutischer Breite) rasch dahinschwindet, wenn man nur einen Teil der zur Dosisbestimmung erforderlichen Umstände berücksichtigt und gleichzeitig von falschen Annahmen ausgeht. Den größten Anteil an der Fehldosierung hat in unserem Fall der unbekannte Wirkstoffgehalt des auf dem Schwarzmarkt erworbenen Stoffs; an zweiter Stelle kommt die Unwissenheit über die korrekte Berechnung der gewünschten Dosis, gefolgt von einer zu hohen Risikobereitschaft. In Zahlen ausgedrückt:
- Aufgrund der unbekannten Wirkstoffmenge der Tabletten nimmt die Konsumentin statt der geschätzten 150 mg MDMA 450 mg zu sich.
→ Dem Schwarzmarkt zuzurechnen sind: 300 mg. - Zwar strebt die Verbraucherin eine mittlere Dosis an, gewichtet aber Geschlecht und Körpergewicht unzureichend. Eine mittlere Dosis betrüge für sie nicht 125 mg, sondern lediglich 84 mg. In der Berechnung beziehe ich die 125 mg auf ein Körpergewicht von 75 kg und bestimme für diese Person das Blutvolumen auf 75 kg · 71 ml/kg gleich 5325 ml. Da eine Frau von 55 kg 3575 ml Blut hat, reduziert sich die Substanzmenge von 125 mg auf 84 mg.
→ Auf mangelhafte Sachkenntnisse gehen zurück: 41 mg. - Irrtümlicherweise meint die Verbraucherin, dass eine Tablette 100 mg enthalte. Um (in ihrem Sinne) nicht unterzudosieren, halbiert sie kurzerhand eine zweite Tablette. Die zusätzlichen 25 mg akzeptiert sie, weil die Gesamtmenge von 150 mg noch knapp im Bereich einer gewöhnlichen Gebrauchsdosis liegt.
→ Dem Leichtsinn geschuldet sind: 25 mg.
Im Ergebnis führt das zu der vermeidbaren Überdosierung von 366 mg. Geht man davon aus, dass die korrekte Dosis 84 mg beträgt, nimmt die Frau das 5,4‑Fache der gewünschten Dosis zu sich – und den größten Anteil hieran hat der Schwarzmarkt.
Nach all dem sollte klar geworden sein, dass die Gepflogenheit, die MDMA-Menge grob über die Anzahl an Ecstasy-Pillen festzulegen, wenig Sicherheit bieten und tödliche Konsequenzen haben kann. Niemals darf eine solche Herangehensweise als Vorbild für die eigene individuelle Dosierung dienen! Wünschenswert wäre ein aktuell zu haltender Substanzrechner, der alle relevanten Faktoren berücksichtigte, um so zu einer präziseren Aussage über die Gebrauchsdosis einer Person in einem vorgegebenen Setting zu kommen. Gegenwärtig verhindert ein solches praxisgerechtes Werkzeug zur Beschränkung des Risikos das Betäubungsmittelgesetz, dessen Grundgedanke in erster Linie Abschreckung und nicht der Schutz der Verbraucher ist.
Dem ungeachtet sei allen dringendst ans Herz gelegt: Selbst diejenigen, die gängiges Recht zu übertreten gewillt sind, sollten dies nicht auf Kosten der eigenen Gesundheit tun. Wie gezeigt wurde, bergen Schwarzmarktsubstanzen das Risiko einer massiven Überdosierung, die bei MDMA gefährlicher sein kann als bei anderen Substanzen. Jede Substanz hat ihre Vorzüge und ihre Tücken.
Revisionen
5. August 2018: sprachliche Anpassungen
12. Januar 2019: Schlagwörter hinzugefügt
13. Januar 2019: pharmakokinetische Aspekte ergänzt
[1] BBC Newsnight (2017): Legalise drugs, says mother who lost daughter to ecstasy.
[2] Rätsch (2015): Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen. p. 135.
[3] TheDEA.org: The Science of MDMA.
[4] Shulgin (2014): Pihkal: A chemical love story. p. 736.
[5] Metzner (2017): Handbuch für nachhaltige Erfahrungen mit Entheogenen. p. 110.
[6] Erowid: MDMA Dosage.
[7] Kolbrich (2008): Plasma Pharmacokinetics of 3,4‑Methylenedioxymethamphetamine After Controlled Oral Administration to Young Adults. p. 329.
[8] Ebenda p. 328.
[9] Laenderdaten.info: Durchschnittsgröße von Mann und Frau.
[10] Schmidt (1987): Physiologie des Menschen. p. 515.
[11] Drogen-Information-Berlin: Hochdosierte MDMA-Pillen.
Literaturverzeichnis
- BBC Newsnight (2017): Legalise drugs, says mother who lost daughter to ecstasy.
www.youtube.com/watch?v=qD6vSEKz1fI - Burzala-Kowalczyk, Lidia; Jongbloed, Geurt (2011): Allometric Scaling: Analysis of LD50 Data. Risk Analysis. Vol. 31, No. 4: pp. 523–532.
- Drogen-Information-Berlin: Hochdosierte MDMA-Pillen.
www.drogen-info-berlin.de/htm/hochdosierte_mdma_pillen.html - Erowid: MDMA Dosage.
www.erowid.org/chemicals/mdma/mdma_dose.shtml
Abgerufen am 03.06.2017. - Kolbrich, Erin A.; Goodwin, Robert S.; Gorelick, David A.; et al. (2008): Plasma Pharmacokinetics of 3,4‑Methylenedioxymethamphetamine After Controlled Oral Administration to Young Adults. Therapeutic Drug Monitoring. Vol. 30, No. 3: pp. 320–332.
- Laenderdaten.info: Durchschnittsgröße von Mann und Frau.
www.laenderdaten.info/durchschnittliche-koerpergroessen.php
Abgerufen am 03.06.2017. - Metzner, Ralph (2017): Handbuch für nachhaltige Erfahrungen mit Entheogenen. Solothurn: Nachtschatten Verlag.
- Rätsch, Christian (2015): Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen. Botanik, Ethnopharmakologie und Anwendung. 12. Aufl. Aarau/Schweiz: AT Verlag.
- Schmidt, Robert F.; Thews, G. (Hrsg.) (1987): Physiologie des Menschen. 23., völlig neubearbeitete Auflage. Heidelberg: Springer-Verlag.
- Shulgin, Alexander; Shulgin, Ann (2014): Pihkal: A chemical love story. Berkeley, CA: Transfom Press.
- TheDEA.org: The Science of MDMA.
www.thedea.org/mdma-risks-science-and-statistics-technical-faq/
Abgerufen am 03.06.2017.