© Nick Ansted – Vacuum Space
Microdosing
Frank Sembowski, 29. März 2019
Schlagwörter: Mikrodosierung, Microdosing, Zeit-Effekt-Modell, Dosis-Effekt-Modell, Unterschwelligkeit, Psilocybin, LSD, DMT, 2C‑B, Albert Hofmann
Korrespondenz an: frank.sembowski@substanz.info
Unter Mikrodosierung (engl. microdosing) im engeren Sinne versteht man die Einnahme einer psychoaktiven Substanz in so geringer Menge, dass die Wirkung unterschwellig bleibt. Eingesetzt werden zu diesem Zweck vor allem LSD und psilocybinhaltige Pilze (engl. magic mushrooms), seltener Ibogain, Meskalin, DMT oder 2C‑B.
Die Mikrodosierung hat in jüngster Zeit verstärkt von sich Reden gemacht – ihre Geschichte ist jedoch eine ältere. Mittlerweile geht man davon aus, dass indigene Kulturen niedrige Dosierungen schon seit Jahrhunderten einsetzen.1 Möglicherweise wussten bereits die Vorfahren der Menschen im Laufe der Hominisation psilocybinhaltige Pilze in sehr niedriger Dosis zu ihrem Vorteil zu nutzen.2 In unserer Zeit hat als einer der ersten Albert Hofmann, der Entdecker des LSD, die Mikrodosierung zur Kreativitätssteigerung angewendet. Der breiten Masse derjenigen, die sich für psychedelische Substanzen interessieren, wurde die Mikrodosierung 2011 durch das Buch The Psychedelic Explorer’s Guide von James Fadiman bekannt. Seitdem sind im Internet so viele persönliche Erfahrungsberichte zur Mikrodosierung erschienen, dass die Mainstream-Medien darauf aufmerksam wurden und sich mit dem Phänomen zu beschäftigen begannen.
Ob Dosen im Mikrodosierungsbereich eine reproduzierbare Wirkung entfalten, ist wissenschaftlich nicht abschließend geklärt. Auch wenn der Begriff Mikrodosierung in der wissenschaftlichen Literatur anfänglich nicht verwendet wurde, fanden erste Untersuchungen hierzu schon in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts statt. 2018 führten James Fadiman und Sophia Korb die erste wissenschaftlich ausgerichtete Onlinebefragung unter Usern durch.3 Dass Mikrodosen oder sehr niedrige Dosen wirken, geht vor allem auf Berichte experimentierfreudiger Laien zurück. Die Benutzer erleben eine gesteigerte Wachsamkeit und Kreativität, einen Schaffensrausch (engl. flow), ein Gefühl der Aufwertung der eigenen Person und eine Verbesserung der Stimmung und des allgemeinen Wohlbefindens (antidepressive und angstlösende Wirkung). Die Mikrodosierung wird darüber hinaus genannt zur Unterstützung meditativer Praktiken, zur Linderung von Migräne und Menstruationsbeschwerden, zur Beseitigung von Schlafstörungen und zur Behandlung von Erkältungskrankheiten.4
Warum gerade die Mikrodosierung (und keine höhere Dosierung) als attraktiv empfunden wird, liegt an der Idee, sie in den Alltag integrieren zu können. Mit dieser Annahme sind jedoch gewisse Unwägbarkeiten verbunden, die einerseits mit der Pharmakokinetik und ‑dynamik psychedelischer Substanzen und andererseits mit der Subtilität der Wirkung zu tun haben. Möchte man das Hauptkriterium der Unterschwelligkeit einhalten, darf die Wirkung auch auf der Plateauphase nicht direkt spürbar sein. Um das garantieren zu können, ist eine Dosis erforderlich, die deutlich unterhalb derjenigen liegt, die üblicherweise für die Mikrodosierung angegeben und empfohlen wird (5 bis 10 Mikrogramm LSD oder 100 bis 400 Milligramm getrocknete psilocybinhaltige Pilze). Ist der Abstand zum Schwellenwert zu groß, wird ein Effekt kaum beobachtbar sein; ist er aber zu knapp bemessen, besteht die Gefahr, dass die Wirkung im Bereich des Maximums nicht unterschwellig bleibt. Streng genommen läge dann keine Mikrodosis vor (Abbildung 1).
Abbildung 1. Schematisches Zeit-Effekt-Modell am Beispiel von Psilocybin.
Die Schwelle 1 markiert die Grenze, unterhalb derer die Wirkung nur unbewusst wahrgenommen wird (Kurve 1; grau unterlegte Fläche). Dies ist der Bereich der reinen Mikrodosierung. Alle über der Schwelle 1 liegenden Wahrnehmungsveränderungen werden als Einfluss der Substanz unmittelbar erkannt. Unterhalb der Schwelle 2 treten subtile, aber noch keine substanziellen Veränderungen der Wahrnehmung auf (Kurve 2, sehr niedrige Dosis). Oberhalb der Schwelle 2 beginnt sich die Sinneswahrnehmung (vor allem das Sehen) und das Zeitempfinden merklich zu verändern. Kurve 3 beschreibt den Verlauf einer niedrigen Dosis, Kurve 4 und 5 denjenigen einer mittleren und hohen Dosis. Die Effekte oberhalb von Schwelle 3 nennt man dissoziative Phase. Sie ist durch den Zusammenbruch des gewöhnlichen Realitätsempfindens gekennzeichnet. Lineares Denken und Handeln sind in ihr nicht mehr möglich.
Abhängig von der Notwendigkeit, die Dosis genau auszutarieren, sind Zweifel angebracht, ob die Mikrodosierung alltagstauglich ist. Hinzu kommt, dass unter den gegebenen Umständen (Laien-Equipment, Schwarzmarktsubstanz oder Substanz biogener Herkunft (mit bekanntermaßen großer Schwankungsbreite der Wirkstoffkonzentration)) eine exakte Dosierung kaum möglich erscheint. Jedenfalls sind die Einflussgrößen derart zahlreich, dass die Unterschwelligkeit nicht mit Bestimmtheit eingehalten werden kann. Ohnehin, meine ich, wird es zielführender sein, die Dosis zu erhöhen, bis die gewünschte Wirkung eintritt, und nicht etwa die Dosis so lange zu erniedrigen, bis das Kriterium der Unterschwelligkeit erfüllt ist.
Aufgrund dessen muss davon abgeraten werden, unter dem Einfluss auch einer angeblich korrekt durchgeführten Mikrodosis gefährliche Tätigkeiten auszuführen oder am Straßenverkehr teilzunehmen. Zwar sollte es aus rechtsstaatlichen Gründen für alle psychoaktiven Substanzen (auch für die illegalisierten) gesetzliche Grenzwerte geben, diese Grenzwerte dürfen allerdings nicht als Unbedenklichkeitsempfehlungen missverstanden werden. Wer verantwortungsvoll handelt, der verzichtet in der Öffentlichkeit oder während der Arbeit auf den Konsum psychedelischer Substanzen.
So man die Unterschwelligkeit als Kriterium aufgibt, kann es keinen Zweifel an der Wirksamkeit der Mikrodosierung oder besser gesagt der sehr niedrigen Dosierung geben. Ob und in welchem Maße die oben aufgeführten Effekte zur Geltung kommen, bleibt wissenschaftlich zu klären. Die Beobachtungen der vielen experimentierfreudigen Laien sind deswegen nicht weniger wertvoll. In der psychedelischen Szene dominierte viele Jahre die Vorstellung, dass man Psychedelika nicht zu niedrig dosieren solle, weil man auf diese Weise gewissermaßen zwischen den Realitäten stecken bliebe. Wenn aber bereits sehr niedrige Dosen reproduzierbare Auswirkungen auf das Bewusstsein und das Wohlbefinden einer Person haben, muss man davon ausgehen, dass alle spezifischen Effekte der Psychedelika dosisabhängig sind. Somit treten einige bei hohen Dosen, andere bei mittleren oder (sehr) niedrigen Dosen deutlicher hervor. Abbildung 2 fasst den Sachverhalt schematisch zusammen. Herausgezogen wurden nur wenige Effekte, da andernfalls die Übersichtlichkeit gelitten hätte. Insgesamt ist die Wirkungsvielfalt der Psychedelika deutlich höher einzuschätzen.
Abbildung 2. Schematisches Dosis-Effekt-Modell am Beispiel von Psilocybin.
Aus der Grafik geht hervor, dass die einzelnen Effekte dosisabhängig sind. Grau unterlegt ist wieder der Bereich der Mikrodosis. Die Kurvenverläufe sind im Detail noch nicht ausreichend wissenschaftlich belegt.5,6 Berücksichtigt wurde ausschließlich die akute Phase (Dauer: 6 bis 12 Stunden, abhängig von der Substanz). Gewisse Einflüsse machen sich aber auch erst nachträglich bemerkbar und ergänzen dann das Wirkungsspektrum. Das gilt beispielsweise für die Kreativität: Die Lösung eines Problems gelingt in der abklingenden Phase oder in den Tagen nach der Einnahme oftmals besser als in der akuten Phase. Andere Effekte, wie die angstbehaftete Ich-Auflösung während einer Gipfelerfahrung (engl. peak experience), werden fast ausschließlich in der akuten Phase erlebt.
Wie man der Illustration entnehmen kann, haben sehr niedrige Dosierungen allein deswegen schon ihre Berechtigung, weil in diesem Dosisbereich bestimmte Effekte isoliert auftreten. Das liegt daran, dass sie von den Einflüssen der höheren Dosis nicht überlagert werden. Von anderen Effekten wiederum – zum Beispiel von der ozeanischen Entgrenzung – erhält man einen Vorgeschmack, wenn die Empfindung auch eine schwächere ist: Die Naturphänomene gewinnen merklich an Bedeutung; das Ich und die Natur beginnen zu verschmelzen. Diese Eindrücke kann man – so sanft sie auch sein mögen – als erste Anzeichen der Entgrenzung und Transpersonalisierung interpretieren, so wie sie bei hohen Dosen häufig beobachtet werden.
Es ist zu hoffen, dass sich das Interesse an der Mikrodosierung und der sehr niedrigen Dosierung hält und ein rationaler Dialog vonseiten der Wissenschaft und der Gesellschaft stattfinden wird. Da als Motive für die Mikrodosierung unter anderem die berufliche Leistungssteigerung und die Selbstmedikation (nicht so sehr Neugierde und Abenteuerlust) genannt werden, schließen sich interessante Fragen an:
Wie kommt es, dass Menschen, die bisher vom Gebrauch illegalisierter Substanzen abgeschreckt wurden, über die Mikrodosierung Zugang zu ihnen gefunden haben? Welche sozialen Umstände tragen dazu bei, dass illegalisierte Substanzen zur allgemeinen Leistungssteigerung in Betracht gezogen werden? Welche Krankheiten meint man, durch die Mikrodosierung heilen zu können, deren Behandlung vom staatlichen Gesundheitssystem so nicht adäquat abgedeckt zu werden scheint? Wenn Neugierde, Genuss und Gruppendynamik bei der Mikrodosierung eine untergeordnete Rolle spielen, sollte man dann hinter der Motivation, illegalisierte Substanzen zu verwenden, nicht grundsätzlich ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit voraussetzen?
Bei allen wissenschaftlichen Vorbehalten gegenüber der Mikrodosierung verdient die dahinter liegende Idee unsere Aufmerksamkeit. Niedrig dosierte Psychedelika sind mehr als ein Trend. Aus ihnen kann sich ein vielversprechendes neues Forschungsfeld entwickeln. Aufgrund der unterschiedlichen fachspezifischen Ansatzpunkte ist dieser Artikel nur als erster Einblick in die Thematik zu verstehen. Für eine vertiefende Beschäftigung mit der sehr niedrigen Dosierung empfehle ich (nicht ganz unvoreingenommen) das Buch Microdosing von Markus Berger. Es ist die bisher umfangreichste Monografie zum Thema und vereinigt auf spannende Weise die unterschiedlichen Sichtweisen mehrerer Autoren. In meinem Beitrag zum Buch untersuche ich den möglichen Einfluss sehr niedrig dosierter psilocybinhaltiger Pilze auf die Evolution des Menschen – eine Hypothese, die im ersten Moment abwegig erscheinen mag, die aber erheblich an Plausibilität gewinnt, wenn man sich genauer mit den Eigenheiten der Hominisation und den allgemeinen evolutionären Mechanismen und Einflussgrößen beschäftigt.
Revisionen
19. April 2019: Hinweis auf die Anfänge der wissenschaftlichen Forschung ergänzt.
[1] Fadiman (2017): Microdose Research.
[2] Sembowski (2019): Einfluss psilocybinhaltiger Pilze auf die Evolution des Menschen. In: Berger (2019): Microdosing – Niedrig dosierte Psychedelika im Alltag.
[3] Fadiman, James: Microdosing Psychedelics.
https://sites.google.com/view/microdosingpsychedelics/home
[4] Fadiman (2017): Microdose Research.
[5] Hasler (2004): Acute psychological and physiological effects of psilocybin in healthy humans: a double-blind, placebo-controlled dose–effect study.
[6] Studerus, Erich; Kometer, Michael; Hasler, Felix; et al. (2011): Acute, subacute and long-term subjective effects of psilocybin in healthy humans: a pooled analysis of experimental studies.
Literaturverzeichnis
- Berger, Markus (2018): Microdosing – Niedrig dosierte Psychedelika im Alltag. Solothurn: Nachtschatten Verlag.
- Brown, Randall T.; Nicholas, Christopher R.; Cozzi, Nicholas V.; et al. (2017): Pharmacokinetics of Escalating Doses of Oral Psilocybin in Healthy Adults. Clinical Pharmacokinetics. Vol. 56, Issue 12: S. 1543–1554.
- Fadiman, James: Microdosing Psychedelics.
https://sites.google.com/view/microdosingpsychedelics/home - Fadiman, James (2017): Microdose Research. The Psychedelic Press. XV. 15, S. 53–59.
https://psychedelicpress.co.uk/blogs/psychedelic-press-blog/microdose-research-james-fadiman
Abgerufen am 27.09.2018. - Fadiman, James (2011): The Psychedelic Explorer’s Guide. Rochester: Park Street Press.
- Hasler, Felix; Bourquin, D.; Brenneisen, Rudolf; et al. (1997): Determination of psilocin and 4‑hydroxyindole-3-acetic acid in plasma by HPLC-ECD and pharmacokinetic profiles of oral and intravenous psilocybin in man. Pharmaceutica Acta Helvetiae. Vol. 72: S. 175–184.
- Hasler, Felix; Grimberg, Ulrike; Benz, Marco A.; et al. (2004): Acute psychological and physiological effects of psilocybin in healthy humans: a double-blind, placebo-controlled dose–effect study. Psychopharmacology. Vol. 172, Issue 2: S. 145–156.
- Koebler, Jason (2015): A Brief History of Microdosing. Motherbord.
https://motherboard.vice.com/en_us/article/gv5p5y/a‑brief-history-of-microdosing
Abgerufen am 27.09.2018. - Prochazkova, Luisa; Lippelt, Dominique P.; Colzato, Lorenza S. (2018): Exploring the effect of microdosing psychedelics on creativity in an open-label natural setting. Psychopharmacology. 235(12): 3401–3413.
- Studerus, Erich; Kometer, Michael; Hasler, Felix; et al. (2011): Acute, subacute and long-term subjective effects of psilocybin in healthy humans: a pooled analysis of experimental studies. Journal of Psychopharmacology. Vol. 25, Issue 11: S. 1434–1452.