Irrtümer und Halbwissen II

© Eugenia Loli – Room With An Almost View

Irrtümer und Halbwissen II

Ste­fan Dewald (SD)
Jens Mül­ler (JM)
Phi­li­ne Edbau­er (PE)
Frank Sem­bow­ski (FS)

17. Dezem­ber 2016 (bear­bei­tet am 16. Sep­tem­ber 2017)

Aufgrund ihrer Gefährlichkeit sollten psychoaktive Substanzen nicht wie Genussmittel vertrieben werden.

Bedau­er­li­cher­wei­se wer­den Alko­hol und Tabak wie Genuss­mit­tel ver­trie­ben. Es ent­spricht in kei­ner Wei­se unse­rer Inten­ti­on, psy­cho­ak­ti­ve Sub­stan­zen frei ver­füg­bar zu machen. Wir for­dern ohne Aus­nah­me den regu­lier­ten Ver­kauf und leh­nen Wer­bung in jeg­li­cher Form ab.

(SD, JM, FS)


Alkohol und Tabak sind erlaubt, weil wir gelernt haben mit ihnen umzugehen.

Die mit Abstand häu­figs­ten Pro­ble­me ver­ur­sa­chen in unse­rer Gesell­schaft die lega­len Sub­stan­zen Alko­hol und Tabak. Im Jahr 2012 waren 1,8 Mil­lio­nen Per­so­nen alko­hol- und 5,6 Mil­lio­nen Men­schen tabak­süch­tig; wei­te­re 1,6 Mil­lio­nen Alko­hol­kon­su­men­ten zeig­ten im sel­ben Zeit­raum ein gesund­heits­schä­di­gen­des Ver­hal­ten. Der hohe Ver­brei­tungs­grad eines Stof­fes ist kein Beleg für sei­ne Harm­lo­sig­keit. Alko­hol ist zen­tra­ler Bestand­teil vie­ler Tra­di­tio­nen, Fes­te und Ritua­le. Sie füh­ren auf unver­ant­wort­li­che Wei­se Jugend­li­che und Her­an­wach­sen­de an den regel­mä­ßi­gen, unre­flek­tier­ten Kon­sum heran.

(FS)


  • Pabst, Alex­an­der; Kraus, Lud­wig; Matos, Ele­na Gomes de; et al. (2013): Sub­stanz­kon­sum und sub­stanz­be­zo­ge­ne Stö­run­gen in Deutsch­land im Jahr 2012. Sucht. 59 (6): pp. 321–331.
  • Insti­tut für The­ra­pie­for­schung (IFT) (2012): Kurz­be­richt: Epi­de­mio­lo­gi­scher Suchts­ur­vey 2012. Prä­va­lenz des Alko­hol­kon­sums, epi­so­dischen Rausch­trin­kens und alko­hol­be­zo­ge­ner Stö­run­gen nach Geschlecht und Alter im Jahr 2012.

Cannabis, Opium und andere Drogen sind unserer Kultur fremd.

Das ist ein weit­ver­brei­te­ter Irr­tum: Schlaf­mohn, aus des­sen unrei­fer Frucht­kap­sel Roh­opi­um gewon­nen wird, stammt aus Euro­pa. Der Ursprung von Can­na­bis sati­va liegt ent­we­der in Mit­tel­eu­ro­pa oder in Zen­tral­asi­en. Bei­des sind uralte euro­päi­sche Kul­tur­pflan­zen, die schon für das Neo­li­thi­kum in Euro­pa nach­ge­wie­sen wer­den konn­ten. Fremd­heit soll­te außer­dem kein Argu­ment dafür sein, etwas abzu­leh­nen. Ein Groß­teil unse­res Spei­se­plans besteht aus Pflan­zen, die aus allen Tei­len der Welt stam­men. Vie­le Tech­no­lo­gien, ohne die wir uns ein Leben nicht mehr vor­stel­len kön­nen (wie zum Bei­spiel Smart­phones), sind erst weni­ge Jah­re auf dem Markt.

(PE, SD, JM, FS)


Der Staat hat die Pflicht, seine Bürger zu schützen.

Die gesetz­li­che Ein­tei­lung der Sub­stan­zen in die Anla­gen des Betäu­bungs­mit­tel­ge­set­zes ent­behrt jeder wis­sen­schaft­li­chen Grund­la­ge. Der gene­ral­prä­ven­ti­ve Ansatz, der Grund­rech­te ein­schränkt und alle Bür­ger zu Objek­ten einer Ziel­set­zung macht, beraubt sie ihrer Men­schen­wür­de und ist in die­ser Gestalt – kurz gesagt – verfassungswidrig.

(FS)


  • Böl­lin­ger, Lorenz (2015): Das Schei­tern straf­recht­li­cher Dro­gen­pro­hi­bi­ti­on: Zur Not­wen­dig­keit einer Reform des Dro­gen­straf­rechts. Hum­boldt Forum Recht (HFR).

Wollen wir ein Volk der Kiffer und Junkies werden?

Wer legt fest, wie die vor­bild­li­che Gesell­schaft aus­zu­se­hen hat? Das Grund­ge­setz kennt jeden­falls kein spe­zi­fi­sches Kon­zept des guten und ange­mes­se­nen Lebens. Aus­drü­cke wie Kif­fer oder Jun­kie sind ideo­lo­gisch gefärbt und tra­gen ledig­lich dazu bei, den Lebens­stil einer Per­son und ihr per­sön­li­ches Schick­sal zu ver­un­glimp­fen, sie aus­zu­gren­zen und zu stig­ma­ti­sie­ren. Es ist zudem nicht beleg­bar, dass Rausch­mit­tel die Wirt­schafts­leis­tung eines Lan­des nega­tiv beein­flus­sen und der Gesell­schaft Scha­den zufü­gen. Aktu­el­le Daten wei­sen dar­auf hin, dass der Lega­li­täts­sta­tus die Höhe des Kon­sums nicht wesent­lich beein­flusst, wo nicht sogar verringert.

(PE, FS)


Was ist mit den Drogentoten?

Aus huma­nis­ti­scher Sicht soll­te nicht erst der Tod eines Men­schen dazu Anlass geben, eine Situa­ti­on zu über­den­ken und zu ver­bes­sern. Davon abge­se­hen ist nicht zu erwar­ten, dass die Anzahl der sub­stanz­in­du­zier­ten Todes­fäl­le ansteigt. Bei­spiels­wei­se wur­de in Por­tu­gal nach Ein­füh­rung der Ent­kri­mi­na­li­sie­rung psy­cho­ak­ti­ver Sub­stan­zen das Gegen­teil beob­ach­tet. Ein gewis­ser Pro­zent­satz der Todes­fäl­le geht auf die ille­ga­len Lebens­um­stän­de der Kon­su­men­ten zurück, das ist: auf Unter­ernäh­rung, kon­ta­mi­nier­tes Spritz­be­steck, auf Ver­un­rei­ni­gun­gen und fal­sche Dosie­run­gen. Die Ver­rin­ge­rung von Dro­gen­to­ten mag impo­sant klin­gen und den kon­ser­va­ti­ven Wäh­lern schmei­cheln; die kom­ple­xe­re Scha­dens­ver­rin­ge­rung in vie­len Berei­chen ist hin­ge­gen nicht so leicht in Zah­len aus­drück­bar. Erstaun­li­cher­wei­se wen­den die­je­ni­gen, die das Argu­ment der Dro­gen­to­ten vor­brin­gen, es nicht auf alko­ho­li­sche Geträn­ke und Ziga­ret­ten an. Die Sta­tis­ti­ken stel­len gera­de die­sen Rausch­mit­teln die denk­bar schlech­tes­ten Zeug­nis­se aus.

(PE, SD, FS)


Das würde uns Steuerzahler doch ein Vermögen kosten, für die ganzen Süchtigen aufzukommen.

Das tut der Steu­er­zah­ler bereits jetzt, und das, ohne durch die Besteue­rung von Sub­stan­zen Ein­nah­men zu erzie­len. Man soll­te Sucht als gesell­schaft­li­ches Pro­blem und als Aus­druck eines Man­gels (nicht als Kos­ten­fak­tor) begrei­fen. Für die Behand­lung einer uner­wünsch­ten Abhän­gig­keit wur­de unser Kran­ken­ver­si­che­rungs­sys­tem schließ­lich geschaf­fen. Die Erfor­schung der Sucht­ur­sa­chen gepaart mit einer offe­nen und fun­dier­ten Auf­klä­rung kön­nen die Sucht­pro­ble­ma­tik ein­däm­men und Kos­ten ein­spa­ren helfen.

(PE, SD, FS)


Wenn es so klar ist, warum wehrt sich die Regierung dagegen?

Die Grün­de hier­für lie­gen in den his­to­ri­schen Ent­wick­lun­gen. Das soge­nann­te Opi­um­ge­setz soll­te ursprüng­lich den inter­na­tio­na­len Waren­ver­kehr für Stof­fe wie Mor­phin und Koka­in regeln. Spä­ter nah­men pro­tes­tan­ti­sche Sek­ten die inter­na­tio­na­len Kon­ven­tio­nen zum Anlass, ihre glau­bens­be­ding­ten Moral­vor­stel­lun­gen eines gott­ge­fäl­li­gen, rich­ti­gen Lebens durch­zu­set­zen, aber auch völ­ki­sche Ideo­lo­gien tru­gen welt­weit zur Fes­ti­gung der Ver­bo­te bei. Die Frei­ga­be von Rausch­mit­teln wür­de heut­zu­ta­ge vie­le kon­ser­va­ti­ve Wäh­ler erschre­cken, die noch immer das rea­li­täts­fer­ne Ide­al einer dro­gen­frei­en Welt ver­wirk­licht sehen wol­len. In der poli­ti­schen Oppo­si­ti­on ist die Libe­ra­li­sie­rung durch­aus ein The­ma. Die Lin­ken, die Pira­ten­par­tei und die Par­tei der Huma­nis­ten, um die am deut­lichs­ten sich für eine Ände­rung ein­set­zen­den Par­tei­en zu nen­nen, haben gegen­über der Libe­ra­li­sie­rung eine dif­fe­ren­zier­te Mei­nung. Ihre Pro­gram­me berück­sich­ti­gen huma­nis­ti­sche Grund­sät­ze auch in Bezug auf die Ein­nah­me psy­cho­ak­ti­ver Substanzen.

(PE, FS)


  • Hol­zer, Til­mann (2007): Die Geburt der Dro­gen­po­li­tik aus dem Geist der Ras­sen­hy­gie­ne. Deut­sche Dro­gen­po­li­tik von 1933 bis 1972. Nor­der­stedt: Books on Demand GmbH.