© Eugenia Loli – Potent Batch
Humanismus und Rausch
Frank Sembowski, 19. Februar 2016
Was hat Drogenkonsum mit Humanismus zu tun? Diese Frage wird einem häufig gestellt, wenn man erklärt, dass man sich vor allem aus humanistischen Gründen für die Liberalisierung psychoaktiver Substanzen einsetzt. Ohne zu sehr auf die mannigfaltigen Auslegungen des Begriffs Humanismus einzugehen, soll an dieser Stelle unter ihm praktischerweise einfach das allgemein Menschliche verstanden werden. Hierzu gehören fraglos humanitäre Gesichtspunkte.
Linderung menschlicher Not
Schon einfache Maßnahmen würden helfen, den Konsum illegalisierter Substanzen sicherer zu gestalten. Anführen kann man beispielsweise die Bereitstellung kostenlosen sterilen Spritzbestecks für Heroin-Süchtige und die Verfügbarkeit eines flächendeckenden Drug-Checkings zur Ermittlung des Reinheits- und Wirkstoffgehalts der auf dem Schwarzmarkt erworbenen Substanzen. Die Benutzer wären auf diese Weise davor geschützt, sich mit lebensbedrohlichen Krankheiten anzustecken und durch gepanschten oder überdosierten Stoff zu vergiften.
Das globale Überwachungssystem hat dazu geführt, dass mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung auf opioidhaltige Schmerzmittel verzichten müssen, obwohl die Verwendung zu medizinischen Zwecken ausdrücklich erlaubt ist.1 In unserer modernen Zeit sollte es nicht möglich sein, diejenigen Medikamente flächendeckend einzusetzen, die schon vor Jahrtausenden Menschen zur Linderung von Schmerzen zur Verfügung standen?
Auch die befremdlich hohen Gefängnisstrafen für den Besitz psychoaktiver Substanzen muss man zu den schlimmsten humanitären Missständen rechnen. Dies gilt bereits für den Strafkatalog vieler demokratischer Staaten, mehr noch aber für die Regime, in denen Substanzdelikte mit dem Tod bestraft werden. Die Welt scheint es kaum zu interessieren, dass in manchen Ländern, wie neuerdings in den Philippinen, eine blutige, sinnlose Hexenverfolgung stattfindet, die Händler und Verbraucher psychoaktiver Substanzen das Leben kostet.
Entfaltung der Menschenrechte
In vielen Punkten decken sich humanistische Werte auch mit den Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948.2 Verletzungen derselben sind auf den Schlachtfeldern der sogenannten Drogenkriege traurige Alltäglichkeit. In Mexiko – Sinnbild für die Aussichtslosigkeit des Kampfes gegen die Hydra des organisierten Verbrechens – wurden faire Gerichtsverfahren, Meinungs- und Informationsfreiheit und nicht zuletzt das fundamentale Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Folter und Gewaltexzesse, wie man sie nur aus Horrorfilmen kennt, stehen an der Tagesordnung. In einigen Regionen des Landes hat der Staat faktisch das Gewaltmonopol eingebüßt, weil die paramilitärisch gedrillten und exzellent ausgestatteten Drogenkartelle die Sicherheitskräfte und das Militär korrumpiert haben. Der streitbare Aufruf zum Krieg gegen psychoaktive Substanzen hat die Kräfte des organisierten Verbrechens entfesselt wie nie zuvor.
Um ein Menschenrecht anzusprechen, das man als Meilenstein der Zivilisationsgeschichte hervorzuheben sonst nicht müde wird: Die Religionsfreiheit soll plötzlich keine allgemeine Gültigkeit mehr beanspruchen dürfen, jedenfalls nicht, wenn es um die Native American Church, die Ayahuasca-Gemeinden, die Rastafaris und den traditionellen Einsatz von Cannabis in der hinduistischen Kultur geht. Und dabei müsste man, streng genommen, nicht einmal die Religionsfreiheit bemühen: Artikel 22 der Menschenrechte, der die soziale Sicherheit und freie Entwicklung der Persönlichkeit vorsieht, sollte eigentlich ausreichen, den Gebrauch psychoaktiver Substanzen, insoweit er privat erfolgt, anzuerkennen.
Abwendung von Rassismus und Diskriminierung
Zu Recht drängt sich einem bei dieser selektiven Wahrnehmung der Verdacht des Rassismus auf. Zur Legitimierung der Restriktionen hatten in der Geschichte der Drogenprohibition schon mehrfach die Sitten und Brauchtümer eingewanderter Ethnien oder subkultureller Gruppen herhalten müssen. So geschehen beim Opiumkonsum der chinesischen Immigranten und Gastarbeiter in den USA, beim Cannabiskonsum der Latinos und bei der Verbreitung von Cannabis und Kokain unter afroamerikanischen Musikern. Diese Unterdrückungsmethoden übertrug man in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts auf den Substanzgebrauch der jugendlichen Protestbewegung, was der Diskriminierung und Pathologisierung einer ganzen Generation gleichkam.
Streben nach Glück
Kommen wir zu dem Aspekt der nationalen und internationalen Anti-Drogenpolitik, der dem Humanismus-Gedanken am deutlichsten widerspricht: Das Verbot psychoaktiver Substanzen enthält den Menschen positive Erfahrungen vor und behindert sie in ihrem Streben nach Glück. Das ist nicht die interpretative Wunschvorstellung derjenigen, die ihren problematischen Konsum nachträglich rechtfertigen wollen. Die Identitätsfindung jeder Person benötigt den Ausbruch aus dem Gewöhnlichen und die Überwindung anerzogener Denkmuster, um die eigenen kulturellen Fähigkeiten und den gesellschaftlichen Überbau besser verstehen zu können. Insbesondere Psychedelika, aber auch Entaktogene wie MDMA wirken häufig lebensbejahend, harmonisieren psychische Vorgänge und bereichern die Persönlichkeit. Diese Aussagen dürfen nicht als Werbung für den leichtfertigen Gebrauch missverstanden werden – sie beruhen auf den Ergebnissen aktueller wissenschaftlicher Studien.3–6
Das Entwürdigende der rechtspolitischen Zustände in Deutschland und anderen Ländern zeigt sich darin, dass die Anti-Drogengesetze diejenigen, die ihren Rausch unauffällig ausüben, die an der Gesellschaft teilnehmen und einer Beschäftigung nachgehen, zu Asozialen und Außenseitern erklären und auf dieselbe Stufe stellen mit den wenigen Personen, deren Verlangen sich auf die Befriedigung ihrer Sucht konzentriert. Es ist reichlich absurd, dass Menschen die ihnen zustehenden Rechte allein aus dem Grund einbüßen sollen, weil sie friedlich bewusstseinsverändernde Substanzen konsumieren.
Beseitigung unmenschlicher Entscheidungszwänge
Wie geschickt das Unmenschliche sich bisweilen hinter der Fassade staatlicher Gängelung zu verbergen weiß, lässt sich am Konzept des §35 des Betäubungsmittelgesetzes verdeutlichen.
„Ist jemand wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren verurteilt worden und ergibt sich […], daß er die Tat auf Grund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat, so kann die Vollstreckungsbehörde […] die Vollstreckung der Strafe für längstens zwei Jahre zurückstellen, wenn der Verurteilte sich wegen seiner Abhängigkeit in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen […]“7
Die Regelung, den Strafvollzug zugunsten einer Rehabilitationsmaßnahme zurückzustellen, trat 1982 in Kraft. Der Volksmund nennt sie „Therapie statt Strafe“. Im ersten Moment könnte man sie für einen Fortschritt halten, doch illustriert sie am eindringlichsten die Inhumanität und Rigidität gedanklicher Kontrollstrukturen, die den Süchtigen lediglich die Wahl zwischen krank, kriminell oder moralisch verkommen lässt. Korrekt wäre es von „Zwangstherapie (unter Aussetzung der Strafe) statt Freiheitsentzug“ zu sprechen. Droht die Therapie aufgrund der konstitutionellen Schwäche der betroffenen Person zu scheitern, muss die Haftstrafe fortgesetzt werden. Der Strafvollzug kann schwerlich dazu dienen, einer Person ein positives Selbstverständnis zu verschaffen. Zudem sei erwähnt, dass Gefängnisse alles andere als substanzfrei sind; häufig kommen die Inhaftierten in ihnen sogar zum ersten Mal mit Stoffen wie Heroin oder Crack in Berührung.
Dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen Straftat und Sucht gibt, wird von der Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde ohnehin immer häufiger in Zweifel gezogen,8 ob zu Recht oder nicht, ist an dieser Stelle zweitrangig – in einem geregelten Markt ergäbe sich jedenfalls gar nicht die Notwendigkeit, Stoffe zweifelhafter Qualität zu horrenden Preisen bei windigen Schwarzmarkthändlern zu erwerben. Die Beschaffungskriminalität ist in den allermeisten Fällen das Resultat des Betäubungsmittelgesetzes und nicht dasjenige der Sucht – einmal beiseitelassend, dass niemand durch eine Haftstrafe davon abgehalten wird, eine Straftat kein weiteres Mal zu begehen, die in den Augen der Person keine Straftat darstellt (gemeint ist hier der Besitz geringer Mengen psychoaktiver Substanzen für den Eigengebrauch)
Angebote zur begleitenden Hilfe
Das Bereitstellen von Angeboten für die Therapie muss man uneingeschränkt begrüßen, aber weder Zwangstherapie noch Gefängnisaufenthalt sind probate Mittel, um Süchtigen diejenige Hilfe angedeihen zu lassen, die ihnen aus menschlicher Sicht zusteht. Mit dem erfolgreichen Abschluss der Therapie kann zudem nur gerechnet werden, wenn eine persönliche Motivation gegeben ist und der therapeutische Ansatz nicht allein für die körperliche Entgiftung und Entwöhnung, sondern auch für eine seelische Langzeitbetreuung sorgt. Hierzu sollten staatliche Mittel bereitgestellt werden, ohne sie an die Bedingung der Totalabstinenz zu knüpfen. Für alle anderen Personen wäre es dem Staat ein Leichtes, menschenwürdige Lebensumstände bereitzustellen, indem er die Süchtigen so lange mit Substanzen in Reinform versorgt, bis sie eigenständig zu dem Entschluss gekommen sind, die therapeutische Kette zu durchlaufen, oder bis sie den Gebrauch so weit reduziert haben, dass ihre sozialen Kompetenzen wieder hergestellt sind. Am Fehlen dieser Angebote erkennt man, dass die unkritische Akzeptanz gültigen Rechts – als vermeintlich wirklichkeitsgetreue Abbildung der Drogenprobleme – zur Entmenschlichung der Paragrafen und Verfahrensweisen geführt hat.
Korrektur überkommener Denkmuster
Die offizielle Beurteilung illegalisierter Substanzen kennt lediglich Missbrauch, Abhängigkeit oder Sucht, wobei zwischen Abhängigkeit und Sucht nur unzureichend unterschieden wird. Kontrollierter Gebrauch ist offenkundig nicht vorgesehen, obwohl er nachweislich weit verbreitet ist. In der Abweichung vom Abstinenzverhalten findet die offizielle Anti-Drogenpolitik ihre genüssliche Bestätigung. Diese ablehnende Haltung beruht auf Deutungsansprüchen, die einem aus heutiger Sicht mehr als zweifelhaft erscheinen müssen. Sie besagen,
- dass fortgesetzter Gebrauch unvermeidlich zur Sucht führt und dass willensschwache Personen dieser Gefahr besonders ausgesetzt sind; oder
- dass einige Personen ein angeborenes Verlangen mitbringen, das Sucht begünstigt, weswegen nur eine besonders strenge Therapie in der Lage sein kann, die erblichen Neigungen auszugleichen; oder
- dass Personen aufgrund einer moralischen Schwäche der Sucht verfallen, was man als Zeichen des Niedergangs der Gesellschaft verstehen muss.
Alle drei Begründungen sind in ihrer Absolutheit wissenschaftlich widerlegt. Man darf Aussagen zu Suchtverhalten und Entwicklungsverläufen grundsätzlich nicht pauschalisieren.9,10 Ihre Ursprünge haben sie in frühen Erklärungsversuchen, mehr aber noch in religiösen, rassistischen und ideologischen Urteilen. Der hartnäckig sich haltende Glaube an die drogeninduzierte Abhängigkeit existiert weiterhin, weil er persönlichen, gesellschaftlichen, beruflichen, kommerziellen und politischen Bedürfnissen genügt.11 Und was den Makel der unzureichenden Moral anbelangt: Eine Kultur, die Gut und Böse kennt, neigt automatisch dazu, Grenzlinien zu ziehen, hinter denen sie das Bedrohliche und Teuflische zu erkennen meint. Diese Gründe und bedauerlicherweise auch das Prinzip des angeborenen Verlangens haben sich im Betäubungsmittelgesetz der Bundesrepublik Deutschland und in den globalen Kontrollstrukturen niedergeschlagen.
Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft
Was bleibt nach alledem als Rechtfertigung für die gegenwärtige Anti-Drogenpolitik übrig, wenn man dem persönlichen Engagement humanistische Werte zugrunde legt? Wir sind der Ansicht, dass an ihrer statt eine humane Substanzpolitik treten sollte, welche die Würde des Menschen und seine Rechte bewahrt, die Benutzer nicht länger kriminalisiert, stigmatisiert und pathologisiert, sie vielmehr als mündige und wertvolle Mitglieder in der Gesellschaft willkommen heißt. Und damit wir nach Jahrzehnten der Unterdrückung menschlicher Bedürfnisse endlich Fortschritte machen und zu einer aktuellen, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen gegründeten Beurteilung des Gebrauchs psychoaktiver Substanzen gelangen, setzen wir uns – nicht zuletzt eben aus humanistischen Überlegungen – für deren Liberalisierung ein.
[1] World Health Organisation (WHO) (2012): Access to Controlled Medications Programme.
[2] United Nations (1948): Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
[3] Griffiths (2006): Psilocybin can occasion mystical-type experiences having substantial and sustained personal meaning and spiritual significance.
[4] Halpern (2005): Psychological and cognitive effects of long-term peyote use among Native Americans.
[5] Bouso (2012): Personality, psychopathology, life attitudes and neuropsychological performance among ritual users of ayahuasca: A longitudinal study.
[6] Mithoefer (2013): Durability of improvement in post-traumatic stress disorder symptoms […]
[7] Weigend (2015): […] Betäubungsmittelgesetz […]. p. 261.
[8] Zurhold (2013): Medizinische Rehabilitation Drogenkranker gemäß § 35 BtMG („Therapie statt Strafe“): Wirksamkeit und Trends. pp. 8f.
[9] Alexander (2011): The Myth of Drug-Induced Addiction.
[10] Schneider (1994): Kontrollierter Gebrauch illegaler Drogen und Selbstausstieg – Ergebnisse und praktische Konsequenzen aus einem Forschungsprojekt. p. 145.
[11] Alexander (2011): The Myth of Drug-Induced Addiction. p. 7.
Literaturverzeichnis
- Alexander, Bruce K. (2011): The Myth of Drug-Induced Addiction. Department of Psychology, Simon Fraser University. (PDF)
- Bouso, José Carlos; González, Débora; Fondevila, Sabela; et al. (2012): Personality, psychopathology, life attitudes and neuropsychological performance among ritual users of ayahuasca: A longitudinal study. PLoS ONE 2012. Vol. 7, Issue 8: e42421.
- Griffiths RR, Richards WA, McCann U, et al. (2006): Psilocybin can occasion mystical-type experiences having substantial and sustained personal meaning and spiritual significance. Psychopharmacology (Berl) 187: pp. 268–283.
- Halpern, John H.; Sherwood, Andrea R.; Hudson, James I.; et al. (2005): Psychological and cognitive effects of long-term peyote use among Native Americans. Biological Psychiatry. 58: pp. 624–631.
- Mithoefer, Michael C.; Wagner, Mark T.; Mithoefer, Ann T.; et al. (2013): Durability of improvement in post-traumatic stress disorder symptoms and absence of harmful effects or drug dependency after 3,4‑methylenedioxymethamphetamine-assisted psychotherapy: a prospective long-term follow-up study. Journal of Psychopharmacology. Vol. 27, No. 1: pp. 28–39.
- Schneider, Wolfgang (1994): Kontrollierter Gebrauch illegaler Drogen und Selbstausstieg – Ergebnisse und praktische Konsequenzen aus einem Forschungsprojekt. In: Menschenwürde in der Drogenpolitik! Materialband zum 2. akzept-Bundeskongreß. Berlin 1994, p. 145.
- United Nations (1948): Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. (PDF)
- Weigend, Thomas (2015): Strafgesetzbuch. Mit Einführungsgesetz, Völkerstrafgesetzbuch, Wehrstrafgesetz, Wirtschaftsstrafgesetz, Betäubungsmittelgesetz, Versammlungsgesetz, Auszügen aus dem Jugendgerichtsgesetz und dem Ordnungswidrigkeitengesetz sowie anderen Vorschriften des Nebenstrafrechts. 45. Aufl., Stand: 1. April 2008. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag (Dtv, 5007: Beck-Texte).
- World Health Organisation (WHO) (2012): Access to Controlled Medications Programme. (PDF)
- Zurhold, Heike; Vertheim, Uwe; Reimer, Jens (2013): Medizinische Rehabilitation Drogenkranker gemäß § 35 BtMG („Therapie statt Strafe“): Wirksamkeit und Trends. Universität Hamburg: Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS).
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