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Pseudoargumente
Frank Sembowski, 20. November 2016
Wir nehmen alle Bedenken gegenüber der Liberalisierung ernst und verstehen es als Teil unseres Engagements, auf sie konstruktiv einzugehen. Behauptungen, die ausschließlich parteilichen Interessen dienen, ideologisch motiviert sind oder anderweitig die Regeln sachlichen Debattierens verletzen, können jedoch nicht unsere uneingeschränkte Zustimmung finden. An dieser Stelle möchten wir anhand von passenden Beispielen kurz erläutern, woran man Pseudoargumente dieser Art erkennt.
Die bloße Meinung
Ich möchte nicht, dass Leute an der Tankstelle Rauschmittel erwerben können …
Der Meinung einer Person darf mit gutem Recht die abweichende Meinung einer anderen Person gegenübergestellt werden, vorausgesetzt, dass jede Stimme gleich viel zählt. Gegensätzliche Meinungen löschen sich aus wie Materie und Antimaterie oder vermischen sich subtraktiv zu einem unansehnlichen, schlammigen Grau. Meinungen verraten etwas über den Überträger der Meinung, sie vermitteln persönliche Ansichten, Stimmungen und Ängste, sagen aber nichts darüber aus, was geeignet und angemessen ist, in der Sache zu einer Entscheidung zu kommen.
Replik: In Form von Tabak- und Alkoholerzeugnissen werden schon heute Rauschmittel an Tankstellen vertrieben. Das hat vor allem wirtschaftliche Gründe. Über das erweiterte Sortiment erzielen Tankstellen einen nicht unerheblichen Teil ihres Gewinns. Wenn psychoaktive Substanzen den Genuss- und Lebensmitteln untergemischt, ihnen gleichgestellt und somit auch verharmlost werden, kann dies zu gedankenlosem Konsum verleiten. Dieses Beispiel verdeutlicht die vorherrschende Ambivalenz im Umgang mit psychoaktiven Substanzen einer angeblich auf Jugendschutz und Prävention hin ausgerichteten Politik. Die niedrige Verkaufsschwelle und leichte Verfügbarkeit sind keine Maßnahmen, die wir befürworten – unabhängig davon, ob es sich um legale oder illegale Substanzen handelt. Wir streben den bewussten und verantwortungsvollen Umgang mit psychoaktiven Substanzen an und wollen jeden Menschen (unter Beachtung des Jugendschutzes) über den Konsum selbst entscheiden lassen. Voraussetzung hierfür sind Gesetze, die sowohl die Herstellung und den Vertrieb als auch den Konsum angemessen regulieren.
Die emotionale Unterstellung
Möchtest du, dass deine Kinder drogenabhängig werden …
Die emotionale Unterstellung formuliert eine persönliche Einsicht so, als gäbe es nur eine zweckmäßige Einstellung zur Sache. Jede abweichende Haltung soll im Vergleich zu dieser lächerlich, dem gesunden Menschenverstand offenkundig widersprechend oder krankhaft erscheinen. Mit der Bejahung der emotionalen Unterstellung will der Diskutant erreichen, dass man nicht allein die gestellte Frage im intendierten Sinne beantwortet, sondern auch die Weltsicht, die sich dahinter verbirgt, als vernünftig und wirklichkeitsnah anerkannt.
Replik: Niemand hegt ernsthaft die Absicht, gerade diejenigen Mitglieder der Gesellschaft, die des besonderen Schutzes bedürfen, einer Gefahr auszusetzen. Der Jugendschutz soll nicht gelockert, sondern im Gegenteil gestärkt werden. Das erreicht man, indem man den Vertrieb der einzelnen psychoaktiven Substanzen reguliert und sie nicht den Gesetzen des Schwarzmarkts überlässt. Jugendliche und Heranwachsende sollen keinen Zugriff auf Rauschmittel erhalten. Begrüßenswert wäre die Abgabe über Fachverkaufsstellen, in denen eine effektive Alterskontrolle durchgeführt und individuelle Beratung erbracht werden kann. Die fundierte, unvoreingenommene Aufklärung erzeugt darüber hinaus eine Atmosphäre des Vertrauens und der Glaubwürdigkeit, von der insbesondere Jugendliche und Heranwachsende in einer Phase des Lebens profitieren, in der sie erst beginnen, komplexe Zusammenhänge zu erkennen und Entscheidungen von persönlicher Tragweite zu treffen.
Die ideologische Grundannahme
Rausch ist etwas Unnatürliches; er schadet der Gemeinschaft.
Die ideologische Grundannahme beansprucht die totale Deutungshoheit über einen Sachverhalt. Sie rechtfertigt sich nicht argumentativ, sondern allein durch den Glauben an die Vollkommenheit des Vorbildes. Der Bezug zur Realität ist somit keine Bedingung für die vorgebrachte Behauptung. Die Wahrheit steht bereits fest, sie muss lediglich verkündet werden.
Replik: Die wenigsten kämen auf die Idee, sich freiwillig einem Bewusstseinszustand hinzugeben, der von geistiger Dumpfheit, chaotischen, teilweise bedrohlichen Bildfolgen und von einem Gefühl begleitet wird, die Kontrolle über den eigenen Körper verloren zu haben – und doch ist es so, dass wir uns alle eben diesem Zustand (den man gemeinhin Schlaf nennt) fünf bis neun Stunden eines Tages aussetzen. Auch Schlafentzug, Meditation, sensorische Deprivation (Reizentzug), Biofeedback, Sexualität und Tanz rufen außergewöhnliche Bewusstseinszustände hervor, die denjenigen durch psychoaktive Substanzen ausgelösten nahe verwandt sind. Sowohl diese Techniken als auch die substanzinduzierten Rauschzustände erfüllen vielfältige Funktionen bezogen auf das Individuum und die Gesellschaft, in der es lebt. Die rauschfreie Gesellschaft gibt es nicht und sie ist – unserer Überzeugung nach – auch nicht erstrebenswert. Ob Schaden durch psychoaktive Substanzen auf gesamt-gesellschaftlicher Ebene entsteht, kann nicht über eine simple Kosten-Nutzen-Rechnung erfasst werden und ist wissenschaftlich zudem schwer greifbar. Häufig werden die angenehmen und heilsamen Aspekte von Rausch verschwiegen oder als Ausnahmen dargestellt. Diese einseitige Sichtweise bedarf der Korrektur, um das Verlangen nach Rauschzuständen besser verstehen zu können.
Der persönliche Angriff
Indem ihr euch für die Liberalisierung einsetzt, verfolgt ihr eigene Interessen.
Der persönliche Angriff möchte die Argumente der Gegenseite als befangen und parteiisch erklären, um ihren Wert zu mindern und ihre Gültigkeit in der Diskussion infrage zu stellen.
Replik: Wir setzen uns für das Persönlichkeitsrecht und für humanistische Werte ein. Dabei achten wir darauf, im Sinne des Gemeinwohls zu handeln, und wägen zwischen dem Entfaltungswillen des Einzelnen und den Interessen der Gemeinschaft genau ab. Jeder Mensch soll sich frei entfalten dürfen, jeder Mensch hat gegenüber der Gemeinschaft, von der er in mancherlei Hinsicht profitiert, jedoch auch Pflichten. Es ist die Aufgabe der Liberalisierung für den Ausgleich dieser beiden Interessen zu sorgen, indem sie den Konsum erlaubt, aber Herstellung, Vertrieb und Verkauf regelt. Die aktuelle Gesetzgebung missachtet dieses Prinzip; sie hält ein extremes Ungleichgewicht aufrecht und trägt damit entscheidend zu den Missständen bei. Schon aus juristischen Gründen darf das Persönlichkeitsrecht sich nicht einer Zwecksetzung (Generalprävention) beugen, die alle Bürger zu Objekten staatlicher Optimierung macht. Das Betäubungsmittelgesetz bekundet einen erheblichen Mangel an Verfassungstreue und sollte aus diesem Grund schnellstmöglich revidiert werden.