Irrtümer und Halbwissen I

© Eugenia Loli – Zimbardo

Irrtümer und Halbwissen I

Ste­fan Dewald (SD)
Jens Mül­ler (JM)
Phi­li­ne Edbau­er (PE)
Frank Sem­bow­ski (FS)

17. Dezem­ber 2016

Wird sich Drogenkonsum nicht wie die Krankheit in einer Epidemie verbreiten?

In der Ver­gan­gen­heit haben ver­schie­de­ne Län­der und Staa­ten Erfah­run­gen mit der Ent­kri­mi­na­li­sie­rung und Libe­ra­li­sie­rung psy­cho­ak­ti­ver Sub­stan­zen gesam­melt. Die befürch­te­ten Hor­ror­sze­na­ri­en blie­ben in allen Fäl­len aus, teil­wei­se sank der Kon­sum leicht. Grund­sätz­lich lässt sich nicht aus­schlie­ßen, dass mit Inkraft­tre­ten der Libe­ra­li­sie­rung Ände­run­gen des Gebrauchs­ver­hal­tens statt­fin­den wer­den. Das muss nicht auto­ma­tisch mit Nach­tei­len ver­bun­den sein; die Miss­brauchs­po­ten­zia­le der lega­len Stof­fe Tabak und Alko­hol sind höher als die­je­ni­gen vie­ler (nicht aller) ille­ga­len Substanzen.

(JM, FS)


  • van Ams­ter­dam, Jan; Opper­hui­zen, Antoon; Koe­ter, Maar­ten et al. (2010): Ran­king the harm of alco­hol, tob­ac­co and illi­cit drugs for the indi­vi­du­al and the popu­la­ti­on. Euro­pean Addic­tion Research.
  • Nutt, David J.; King, Les­lie A.; Phil­lips, Law­rence D. (2010): Drug harms in the UK: a mul­ticri­te­ria decis­i­on ana­ly­sis. In: The Lan­cet (376), Issue 9752.
    San­tos, Ana Sofia; Duar­te, Óscar (2014): Natio­nal Report (2013 Data) to the EMCDDA. „Por­tu­gal“: New Deve­lo­p­ments, Trends. Lis­boa: Rei­tox Natio­nal Focal Point.

Wollt ihr etwa auch Crystal Meth freigeben?

Libe­ra­li­sie­rung heißt nicht, dass man die Stof­fe im Tan­te-Emma-Laden um die Ecke zu kau­fen bekommt; libe­ra­li­sie­ren bedeu­tet, dass Ver­kehr und Kon­sum der unter­schied­li­chen Sub­stan­zen staat­li­cher Regu­lie­rung unter­lie­gen. Jede Sub­stanz bringt ihre eige­nen Gefah­ren und Chan­cen mit sich, wes­we­gen jede indi­vi­du­ell nach wis­sen­schaft­li­chen Kri­te­ri­en beur­teilt wer­den muss. Wir baga­tel­li­sie­ren grund­sätz­lich nicht die Ein­nah­me psy­cho­ak­ti­ver Sub­stan­zen, ver­leug­nen gleich­zei­tig aber auch nicht ihren Nut­zen. Metham­phet­amin-Hydro­chlo­rid (Crys­tal Meth) soll­te wie jede ande­re Sub­stanz dem Schwarz­markt ent­ris­sen und unter staat­li­che Kon­trol­le gestellt werden.

(JM, FS)


Die rauschfreie Gesellschaft ist das Ideal, das wir erreichen müssen.

Besteht für die rausch­freie Gesell­schaft Not­wen­dig­keit? Das rea­li­täts­fer­ne Ide­al einer dro­gen­frei­en Welt hat in der Ver­gan­gen­heit erheb­li­ches Leid ver­ur­sacht. Rausch­zu­stän­de tra­gen zur Iden­ti­täts­fin­dung des Men­schen bei und erfül­len inner­halb der Gesell­schaft zen­tra­le Funk­tio­nen. Ande­rer­seits soll­te nie­mand zur Ein­nah­me von Rausch­mit­teln gezwun­gen wer­den. Wir set­zen uns für die Frei­heit der Per­sön­lich­keit ein – nicht für eine Dok­trin des Rauschs.

(FS)


Ist es nicht schlimm genug, dass wir so viele Alkoholkranke und Tabaksüchtige haben?

Es ist in der Tat bedenk­lich, dass die Schä­di­gungs­po­ten­zia­le von Alko­hol und Tabak in der Bevöl­ke­rung kaum Beach­tung fin­den. Vie­le Men­schen stu­fen die aller­meis­ten ille­ga­li­sier­ten Sub­stan­zen instink­tiv als gefähr­li­cher ein, weil sie Wer­bung, Gesund­heits­kam­pa­gnen und der fehl­ge­lei­te­ten Infor­ma­ti­ons­po­li­tik Glau­ben schen­ken, statt sich mit der The­ma­tik aus­ein­an­der­zu­set­zen. Eine wis­sen­schaft­li­che Begrün­dung dafür, dass die ein­zel­nen Sub­stan­zen in den Anhän­gen des Betäu­bungs­mit­tel­ge­set­zes der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land auf­ge­führt sind, gibt es nicht. Die unter­schied­li­chen Stof­fe wur­den zu kei­ner Zeit nach ihrem Schä­di­gungs­po­ten­zi­al beur­teilt. Um Miss­brauch zu ver­mei­den, müs­sen wir uns gene­rell inten­si­ver dar­um bemü­hen, die Ursa­chen von Sucht bes­ser zu ver­ste­hen. Unse­re Gesell­schaft weist 2,31 Mil­lio­nen Per­so­nen auf, die süch­tig nach Schmerz‑, Schlaf- oder Beru­hi­gungs­mit­teln sind, ergänzt um 4,61 Mil­lio­nen Per­so­nen, die Medi­ka­men­te die­ser Arz­nei­mit­tel­grup­pen in sol­chen Men­gen ein­neh­men, dass man gemein­hin von Miss­brauch spricht. Was sagen die­se Zah­len über unse­re Gesell­schaft aus?

(JM, FS)


  • Pabst, Alex­an­der; Kraus, Lud­wig; Matos, Ele­na Gomes de; et al. (2013): Sub­stanz­kon­sum und sub­stanz­be­zo­ge­ne Stö­run­gen in Deutsch­land im Jahr 2012. Sucht. 59 (6): p. 327.

Rausch ist eine krankhafte Abweichung vom normalen, gesunden Bewusstseinszustand.

Es gibt unzäh­li­ge Bewusst­seins­zu­stän­de, die unse­re Exis­tenz bestim­men und natur­ge­ge­ben sind. Nur die offi­zi­el­le poli­ti­sche Les­art meint, in Rausch­zu­stän­den Ver­werf­li­ches erken­nen zu müs­sen. In vie­len Kul­tu­ren ist Rausch ritua­li­siert und in die jewei­li­ge Grup­pe funk­tio­nal inte­griert, was nicht bedeu­tet, dass der Gedan­ke der Libe­ra­li­sie­rung in ihnen zu jeder Zeit wei­te Ver­brei­tung gefun­den hät­te. Auch in der Ver­gan­gen­heit gab es Eth­ni­en, die den Gebrauch ein­zel­ner psy­cho­ak­ti­ver Sub­stan­zen tabui­sier­ten. Ob die Mit­glie­der die­ser Eth­ni­en sich dar­an jeder­zeit hiel­ten, ist eine ande­re Frage …

(FS)


Drogen sind gefährlich!

Vie­les im Leben ist gefähr­lich. Jeder Mensch soll­te ler­nen, Ent­schei­dun­gen zu tref­fen und für die eige­ne Per­son Chan­cen und Risi­ken abzu­schät­zen. Wir kön­nen erwach­se­ne Per­so­nen nicht bevor­mun­den, ohne die grund­le­gen­den Wer­te, auf denen unse­re Gesell­schafts­ord­nung beruht, infra­ge zu stel­len. Wenn psy­cho­ak­ti­ve Sub­stan­zen aus­schließ­lich unan­ge­neh­me Effek­te hät­ten, wür­de sie nie­mand ein­neh­men. Phar­ma­ko­lo­gi­sche Wir­kungs­me­cha­nis­men tra­gen zum Rausch­erleb­nis bei, aber den grö­ße­ren Ein­fluss auf die Rezep­ti­on des Rausch­erleb­nis­ses haben beglei­ten­de Fak­to­ren. Eine Garan­tie für den siche­ren Umgang mit psy­cho­ak­ti­ven Sub­stan­zen gibt es nicht. Dies betrifft lega­le genau­so wie ille­ga­le Stoffe.

(FS)


Cannabis und andere vermeintlich sanfte Drogen sind Einstiegsdrogen.

Ein­stiegs­sub­stanz Num­mer eins ist der legal erhält­li­che Alko­hol. Einen der Sub­stanz inne­woh­nen­den Deter­mi­nis­mus (Sucht­fal­le), der zwin­gend zu lebens­lan­ger Sucht, gesell­schaft­li­chem Absturz und Ver­wahr­lo­sung führt, exis­tiert so nicht. Nur in den sel­tens­ten Fäl­len brin­gen Men­schen, gleich­sam von Geburt an, eine der­art hohe Affi­ni­tät zu einer Sub­stanz mit, dass eine Sucht begüns­tigt ist.

(FS)


Abhängigkeit ist etwas Schlechtes, weil es unseren Handlungsspielraum einschränkt.

Man muss zwi­schen Abhän­gig­keit und Sucht genau unter­schei­den. Jeder Mensch ist von vie­len Din­gen abhän­gig, ohne gleich­zei­tig süch­tig zu sein. Hier­zu gehö­ren Schlaf, Essen, Trin­ken, Freund­schaft, Zunei­gung, Glück und Hoff­nung. Sub­stanz­ab­hän­gig­keit geht nicht auto­ma­tisch mit Leid ein­her. Es gibt Men­schen, die ihre Nei­gung zu einer Sub­stanz bewusst als Aus­druck ihres Lebens­ge­fühls begrei­fen. Hät­ten psy­cho­ak­ti­ve Stof­fe aus­schließ­lich nega­ti­ve Fol­gen, wür­den sie logi­scher­wei­se kei­nen Zuspruch fin­den. Bei einer Sucht dient ande­rer­seits die spe­zi­fi­sche Wir­kung eines Rausch­mit­tels als Ersatz für einen (oft uner­kannt geblie­be­nen) Man­gel. Ver­bo­te kön­nen die­sen Man­gel nicht besei­ti­gen und dem­zu­fol­ge auch die Sucht­ge­fahr nicht bannen.

(FS)