Die Versorgung mit pflanzlichen Heilmitteln ist ein Naturrecht · Interview mit dem Allgemeinmediziner Manfred van Treek
7. April 2019
Das Interview führte Frank Sembowski am 24. März 2019
Der Allgemeinmediziner und Naturheilkundler Manfred van Treek setzt sich seit Jahren dafür ein, die noch weit verbreiteten Vorurteile gegen die Heilpflanze Cannabis zu überwinden und sie als vielfältiges Therapeutikum in der Medizin zu etablieren. Obwohl Cannabis seit März 2017 von Ärzten in Deutschland in begründeten Fällen verschrieben werden darf, hält er die Gesetzeslage für widersprüchlich und die Behandlungskosten für nicht tragbar.
Manfred van Treek ist Mitglied des Präsidiums und des wissenschaftlichen Beirats des Deutschen Naturheilbundes.
Teil 1: Medizinische Indikation einer Cannabisbehandlung
Bei welchen Krankheiten ist die Behandlung mit Cannabis aus Ihrer Sicht indiziert?
Hierzu kann man sich die Krankheiten der über 1000 Menschen anschauen, die zwischen 2007 und 2016 eine Ausnahmeerlaubnis erhielten. Wichtig ist Cannabis bei Asthma, da Cannabis sowohl eine die Bronchien erweiternde als auch eine entzündungshemmende Wirkung hat – es wirkt also bei Asthma gleich zweifach.
Einen weiteren Bereich bilden entzündliche Darmerkrankungen: beispielsweise Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn. Entzündungen gehen in der Regel mit Schwellungen, Rötungen, Hitze und Schmerzen einher – alles Symptome, bei denen Cannabis helfen kann. Dann Entzündungen der Gelenke, also Arthritis, Arthrosen und deren entzündliche Aktivierungen und Morbus Bechterew der Wirbelsäule; verschiedene Hauterkrankungen, wie zum Beispiel Akne und die mit starkem Juckreiz einhergehende Neurodermitis; oder bei Patienten, die zum starken Schwitzen neigen.
Viele Indikationen gibt es in der Neurologie. Epilepsie ist ein gutes Einsatzgebiet für Cannabis. Die Patienten brauchen dann nicht mehr diese – ich sage jetzt einmal – diese mental abstumpfenden Antiepileptika einnehmen, die über die Jahre den Intelligenzquotienten deutlich vermindern. Weiterhin bei Zittern, Restless-Legs-Syndrom oder auch beim Tourettesyndrom. Wir haben mit Frau Professor Kirsten Müller-Vahl von der Universität Hannover eine Wissenschaftlerin in unserem Cannabiskreis, die auf diesem Gebiet umfassend forscht.
Bei Depressionen und bei Morbus Alzheimer mit Verwirrungen kann man es einsetzen. Bei Multipler Sklerose halte ich Cannabis auch für wichtig. Ich habe einen Patienten, der nicht mehr gehfähig ist, nur noch zwischen Bett und Rollstuhl wechselt und durch sehr schmerzhafte Muskelspasmen gequält wird. Dann das große Gebiet der Schmerzen – muss ich jetzt nicht alles aufzählen … Es ist halt ein unspezifisches Arzneimittel, das man bei allem Möglichen einsetzen kann.
Welche besonderen Heilerfolge haben Sie mit Cannabis erzielt?
Ich habe eine Patientin, die aufgrund ihrer schweren Schmerzstörung – bedingt durch Faszikulationen* der oberflächlichen Hals- und Gesichtsmuskulatur – 100 Gramm Cannabis-Blüten im Monat benötigt. Sie hat schon verschiedene Therapien versucht. Von dieser Patientin kann man wirklich behaupten, dass sie schwer krank und austherapiert ist. Nur mithilfe von Cannabis kommt sie überhaupt über den Tag.
Dann dieser Patient mit Multipler Sklerose, der den ganzen Tag nur noch sitzen kann – für den ist Cannabis auch ein großer Segen. Ja, das sind Fälle, von denen man sagen kann, dass die gesetzlichen Vorstellungen der Väter und Mütter des Gesetzes voll umgesetzt sind. Für diese beiden Patienten verschreibe ich es noch auf Kassenrezept.
*) Faszikulationen sind unwillkürliche Bewegungen sehr kleiner Muskelgruppen unter der Haut.
Wie bei allen Arzneimitteln kann auch Cannabis zu unerwünschten Nebenwirkungen führen. Welche sind das?
Vielleicht zuerst einmal die 99 % positiven Fälle: Oft kommen Patienten, die gemerkt haben, dass ihnen Cannabis bei ihren Beschwerden besser hilft als irgendwelche anderen Medikamente der Standardmedizin. Weil diese Patienten Cannabis bereits vorher illegal angewandt haben, wissen sie genau, was auf sie zukommt. Komplikationen oder Nebenwirkungen treten von Anwendern mit bereits seit Jahren bestehender Selbsterfahrung eigentlich nicht auf. Gerade von dieser Patientengruppe könnte die medizinische Wissenschaft viel lernen.
Nebenwirkungen andererseits sind schon möglich: Übelkeit, Schwindel, Blutdruckabfall und verstärkte Schlafneigung (wo diese nicht gerade gewollt ist). Ich habe mit der Zeit gelernt, dass man die Patienten gut aufklären muss, aber ich habe auch gemerkt, was für ein Unterschied besteht zu synthetischen Fertigarzneimitteln, die deutlich stärkere Nebenwirkungen entfalten können als Zubereitungen aus Blüten. Anfänger der Therapie sollten in jedem Fall sehr vorsichtig sein und sich mit den Nebenwirkungen zuerst vertraut machen.
Teil 2: Gesetzeslage
Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit in der ärztlichen Praxis ein Patient Cannabis als Medizin erhalten kann.
Die erste Voraussetzung ist der Arzt selbst. Er oder sie muss bereit sein, Cannabis zu verschreiben und Patienten mit Cannabis zu behandeln. Manche Ärzte haben generell Bedenken, sogenannte Betäubungsmittel zu verschreiben. Als Betäubungsmittel kennen wir Opioide, aber auch (überhaupt nicht betäubende) Stimulanzien wie Methylphenidat und Ritalin für Kinder mit ADHS. Es gibt tatsächlich Ärzte, die lehnen Betäubungsmittel in der Praxis ab, weil sie Angst haben, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Ich schätze, dass 95 % der Ärzte mit Cannabis unter anderem deswegen nichts zu tun haben wollen, weil Cannabis rechtlich gesehen noch als Betäubungsmittel gilt.
Neurologen wiederum, die bei neurologischen Indikationen wegen Cannabis von Patienten angefragt werden, lehnen Cannabis oft ab, weil es ein Naturheilmittel ist. Sie ziehen chemisch definierte synthetische Präparate vor, so wie sie es seit Jahren und Jahrzehnten gewohnt sind. Ärzte, die sich bisher für Cannabis starkgemacht haben, sind entweder Schmerztherapeuten oder naturheilkundlich orientierte Ärzte. Es gibt also eine große Diversität unter den Ärzten.
Auf der Seite des Patienten wurden die Bedingungen im März 2017 im Sozialgesetzbuch 5, § 31 festgelegt, wodurch Cannabis grundsätzlich verschreibungsfähig wurde.ǂ In diesem steht (Satz 6): „Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon […]“ Bei Letzteren handelt es sich um synthetische Cannabiswirkstoffe. Voraussetzung ist also die schwerwiegende Erkrankung. Von den über 300 Patienten, die bisher wegen Cannabis bei mir vorstellig geworden sind, hatte jeder einzelne eine schwerwiegende Erkrankung, und sei es nur unter dem Gesichtspunkt der Prophylaxe, um das Fortschreiten zu einer schwerwiegenden Erkrankung zu verhindern.
Eine weitere Voraussetzung ist die Einschätzung des Arztes, wie sie ebenfalls unter Satz 6 des Sozialgesetzbuches 5, § 31 verlangt wird: „[…] wenn 1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung a) nicht zur Verfügung steht oder b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, 2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.“
Da ich Naturheilkundler bin, arbeite ich selbstverständlich lieber mit pflanzlichen Heilmitteln und auch lieber mit Cannabis als mit synthetischen Präparaten. Das ist meine persönliche Einschätzung. Und bisher habe ich immer das Sozialgesetzbuch so interpretiert, dass es meiner Therapiehoheit überlassen ist, ob ich Cannabis verschreibe oder nicht.
ǂ) Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) – Gesetzliche Krankenversicherung. Online abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/BJNR024820988.html
Allerdings widerspricht das Betäubungsmittelgesetz in Teilen dem Sozialgesetzbuch …
Und das ist ein juristisches Problem. Die Freiheiten, die das Sozialgesetzbuch 5 dem Arzt gibt, Cannabis als Medizin nach eigener Abwägung zu verschreiben, steht im direkten Widerspruch zum Betäubungsmittelgesetz.+ Der entscheidende Passus befindet sich im § 13, Absatz 1 des BtMG. Dort steht zuerst einmal, dass man als Arzt Betäubungsmittel verschreiben darf, wenn ihre Anwendung am oder im menschlichen oder tierischen Körper begründet ist. Für Cannabis, für diese sehr gute, wirksame und nebenwirkungsarme Heilpflanze liegt eine Begründung zweifellos vor. Der Fallstrick ist jedoch der nachfolgende Satz: „Die Anwendung ist insbesondere dann nicht begründet, wenn der beabsichtigte Zweck auf andere Weise erreicht werden kann.“
Ursprünglich hat sich das Betäubungsmittelgesetz in erster Linie auf Opioide bezogen, und bei diesen kann ich es sehr gut nachvollziehen, dass die Anwendung wegen der Nebenwirkungen und des großen Suchtpotenzials genau begründet werden muss. Hier ist es besser, zuerst andere Schmerzmittel einzusetzen oder auch nicht-medikamentöse Therapien wie zum Beispiel Krankengymnastik, Massagen oder Ergotherapie. Und als Naturheilkundler denke ich außerdem an Verfahren wie Akupunktur oder Neuraltherapie mit Lokalanästhetika.
Nun gilt, wie die Opioide, Cannabis noch immer als Betäubungsmittel – meiner Meinung nach ungerechtfertigterweise. Und darauf beruht die Diskrepanz zwischen dem Betäubungsmittelgesetz und dem Sozialgesetzbuch 5 – das eine schließt aus, was das andere seit 2017 explizit erlaubt.
+) Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Online abrufbar unter: http://www.gesetze-im-internet.de/btmg_1981/
Teil 3: Kosten einer Behandlung
Nehmen wir an, für einen Patienten sind alle Voraussetzungen erfüllt. Die Krankenkasse erklärt sich aber nicht bereit, trotz schwerwiegender Erkrankung die Behandlung zu übernehmen. Mit welchen monatlichen Kosten muss ein Patient rechnen, der genötigt ist, Cannabis aus eigener Tasche zu bezahlen?
Das hängt von der Apotheke ab. Es gibt günstige Apotheken, die Mengenrabatte an die Patienten weitergeben. Ich kenne eine deutsche Apotheke, die ein Gramm Cannabis für 12 Euro anbietet. Gerechnet auf einen Monat wären das 360 Euro – falls der Patient mit einem Gramm pro Tag auskommt. Wenn er 3 Gramm am Tag braucht (was sehr viel wäre), kommt man dementsprechend auf etwas mehr als 1000 Euro. Das ist aber die günstige Apotheke. Es gibt Apotheken, die nehmen immer noch 22 bis 25 Euro für ein Gramm Cannabis. Gehen wir jetzt einmal von 23 Euro aus und nehmen einen Bedarf von 2 Gramm Cannabis pro Tag an, dann muss der Patient 1380 Euro im Monat aufwenden.
Es ist bei anderen Medikamenten ja eher ungewöhnlich, dass der Patient sich auf die Suche begeben muss, wo er oder sie die dringend benötigte Medizin zu einem annehmbaren Preis erhält.
Zu Beginn der Verschreibungsfähigkeit im März 2017 haben die Apotheken Cannabis beim niederländischen oder kanadischen Importeur für 51 Euro pro 5 Gramm eingekauft, und die Apotheken, die einen guten Profit machen wollten, haben sich an die gesetzlichen Vorschriften gehalten und 100 % Apothekenaufschlag geltend gemacht. So kamen sie auf 102 Euro. Dann ergeben sich noch weitere Gebühren, zum Beispiel Steuern oder die Prüfung durch den Apotheker, ob die Cannabis-Blüten nicht verschimmelt sind, ob es auch wirklich Cannabis ist und nicht irgendwas anderes. Jedenfalls kommen die Apotheken dann auf 125 Euro pro 5 Gramm Cannabis. Und das ist natürlich unglaublich teuer, besonders für jemanden der 1, 2 oder 3 Gramm am Tag benötigt.
Das können sich die wenigsten Leute privat leisten. Wie sieht es aber mit ihrem eigenen Budget aus? Wird im Vergleich mit alternativen Therapieformen Ihr Budget durch einen Cannabispatienten besonders belastet?
Ja, das ist so. Das ist einer der beiden Gründe gewesen, warum ich mich aus der Verordnung von Cannabis zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen zurückgezogen habe. Ich hatte maximal 16 Patienten mit Kostenzusage durch die Krankenkasse. Eine ganze Reihe war dabei – gefühlt vier oder fünf – die 100 Gramm im Monat benötigten. Andere haben weniger – 1 Gramm pro Tag, also 30 Gramm im Monat gebraucht. Von der Summe her hat das mein monatliches Budget letztendlich mit über 20.000 Euro belastet, und das ist in etwa der Betrag, den ich für Medikamente meiner sonstigen 800 Kassenpatienten zu jenem Zeitpunkt brauchte. Kurz: Es hat mein Medikamentenbudget verdoppelt.
Wenn ein Arzt gegenüber den Kostenträgern und gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung auffällt, das heißt, wenn er oder sie das Medikamentenbudget um 50 % überschreitet – also bei 151 % des Durchschnitts liegt – kommt es, was Medikamente betrifft, zu einer Wirtschaftlichkeitsprüfung. Ich war auf jeden Fall einige Monate darüber. Und wie eine Wirtschaftlichkeitsprüfung am Ende ausgeht, lässt sich nicht so ohne Weiteres voraussagen. Man kann nur auf das Verständnis der Krankenkassen hoffen, dass ein Großteil der Budgetbelastung auf Cannabis zurückgeht. Im Endeffekt waren es ja auch die Krankenkassen, die die Anträge genehmigt haben.
Mit welchen Konsequenzen hat man zu rechnen, falls die Wirtschaftlichkeitsprüfung negativ ausfällt?
Die Konsequenzen sind dann der Regress. Ein Arzt muss dann viele Tausend Euro zurückzahlen; zwar nicht die gesamten Kosten der Cannabis-Therapie, aber doch so viel, dass das an die Existenz gehen kann. Der Kollege Dr. Wolfgang Lang-Heinrich hat in einem Vortrag im Zusammenhang mit Cannabis von existenzbedrohenden Regressen gesprochen.
Warum sind die Cannabis-Präparate eigentlich so teuer? Es handelt sich um ein pflanzliches Produkt, im Grunde genommen nichts anderes als Kamille oder Salbei, die selbstverständlich auch nicht verunreinigt sein dürfen und für die ein vorgesehener Qualitätsstandard eingehalten werden muss. Was macht Cannabis als Medizin so teuer?
Der hohe Preis hängt mit der Handelskette zusammen. Im Moment gibt es noch keinen in Deutschland angebauten Cannabis, der auf dem Markt erscheinen darf. Das soll, meine ich, erst 2020 soweit sein. Also haben wir zurzeit die kanadischen und die niederländischen Lieferanten, die verständlicherweise auch etwas verdienen wollen. Hinzu kommt, soviel ich weiß, ein Zwischenhändler, der berechtigt ist, die Einfuhr zu regeln: Die Hersteller verkaufen nicht direkt an die Apotheken. Der Zwischenhändler will also auch etwas verdienen, und der Apotheker möchte, wie wir gesehen haben, ebenfalls am Gewinn beteiligt sein. Auf diese Weise, denke ich, kommt der hohe Preis zustande.
Kürzlich habe ich einen Vortrag gehalten, in dem sich ein Mann zu Wort gemeldet und gesagt hat, dass ihn der Cannabis, den er für seinen eigenen Bedarf herstellt, circa 1 Euro und 50 Cent pro Gramm kostet. Das ist also wohl ein realistischer Preis für den Selbstanbau.
Hinzu kommen hohe Verwaltungskosten aufseiten der Krankenkassen: Eine Reihe an Gutachtern müssen zur Verfügung stehen, um die vielen Anträge zu bearbeiten.
Nicht zu vernachlässigen sind auch die Verwaltungskosten der Arztpraxis. Man muss den Patienten ja kennenlernen: Man führt die Erstanamnese durch und füllt den Arztfragebogen aus. Hierfür benötige ich immer so anderthalb Stunden. Das schicke ich an die Krankenkasse, die es wiederum an den medizinischen Dienst weiterleitet, der dann das Gutachten erstellt. Manchmal benötigt es auch zwei Anläufe, um die Genehmigung zu erhalten. Bedingung ist, dass der Patient Widerspruch einlegt oder das Sozialgericht einschaltet. Kurzum, für die kassenfinanzierte Cannabis-Therapie ist ein nicht unerheblicher Verwaltungsaufwand nötig.
Wird dieses Verfahren der ärztlichen Praxis überhaupt gerecht?
Die Anträge werden durchaus bearbeitet – mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung allerdings. Drei Wochen sind da schon ganz gut, manchmal hat es auch fünf Wochen gedauert. Und dann gab es noch so manch eine Genehmigung, die wurde aufgrund einer sogenannten Genehmigungsfiktion erteilt. Wenn die Krankenkasse mit der Beantwortung zu lange braucht, dann gilt der Antrag nach einiger Zeit automatisch als genehmigt, auch wenn die Krankenkasse eigentlich nicht dahintersteht. Von solchen Fällen hatten wir einige.
Angenommen nun, dass die geschätzten 95 % der Ärzte, die Cannabis als Medizin im Moment noch ablehnen, dazu übergehen, Anträge für ihre Patienten zu stellen – würde das System diese Zusatzlast verkraften?
Es würde noch funktionieren, wäre aber ungemein teuer. Dazu folgende Überlegung: Aus den Prävalenzstatistiken der Krankheiten kann man ablesen, dass deutlich mehr als 10 % der bundesdeutschen Bevölkerung chronisch krank ist. Aller Wahrscheinlichkeit sind es sogar bis zu 30 %. Jedenfalls sind es mindestens 10 % der Menschen, denen Cannabis eine Linderung bei Ihren Krankheiten verschaffen könnte. Meiner Schätzung nach würde Cannabis diesen acht Millionen Menschen (also einem Zehntel der Bevölkerung) besser nützen als synthetische Präparate, die die Standardmedizin üblicherweise verschreibt oder einsetzt. Wenn jeder dieser acht Millionen Menschen ein Jahr lang 1 Gramm Cannabis pro Tag benutzen würde – was eine mittlere Dosis ist – käme man bei einem Preis von 25 Euro pro Gramm Cannabis auf 73 Milliarden Euro pro Jahr. Da die Krankenkassen pro Jahr ungefähr 215 bis 230 Milliarden Euro umsetzen – für alle Krankenhäuser, für alle Arztpraxen, für das Krankentagegeld – stiegen dadurch die Krankenkassenkosten um ein Viertel an. Und das ist nicht umsetzbar, auch dann nicht, wenn man annimmt, dass ein Teil der anderen Therapien entfällt.
Teil 4: Fragen zur Ethik und zum Humanismus
Für einen Unbeteiligten klingt es paradox, dass eine Maßnahme, die kranken Menschen zugutekommen soll, durch einen langsamen gutachterlichen Verwaltungsapparat, der zudem erhebliche Kosten verursacht, ausgebremst wird. Was steckt Ihrer Meinung nach dahinter?
Wir haben es ja mit einer jahrzehntelangen Kriminalisierung zu tun. Wenn man sie zusammenzählt, dann kommt man auf Hunderttausende von Jahren Gefängnisstrafen, die doch eigentlich unschuldige Menschen absitzen mussten. Diese Menschen wollten nur ihre Medizin anwenden können oder meinethalben ihre Substanz, mit der sie sich die Freizeit verschönerten, genießen. Wie andere halt Alkohol trinken, habe sie Cannabis eingesetzt. Und dafür mussten sie dann ins Gefängnis, weil sie mit dem BtMG in Konflikt geraten sind.
Jetzt haben wir dadurch, dass Ärzte es unter bestimmten Bedingungen verschreiben können, eine Erleichterung erreicht, aber Sie sehen ja, dass es doch nicht so einfach ist. Ich glaube, es gibt zwei Sorten von Kräften oder Einstellungen, die bei vielen immer noch eine Gegnerschaft zu Cannabis hervorruft.
Die eine ist vorurteilsbehaftet: Die Leute glauben wirklich, dass es sich hier um eine gefährliche Droge handelt, vor der man die Gesellschaft schützen muss. Sie glauben, dass Cannabis zurecht als Betäubungsmittel eingestuft wurde.
Und die andere Gruppe von Menschen oder Kräften hat ein Schutzinteresse – ein Schutzinteresse für die Pharmaindustrie, die durch diese Allround-Heilpflanze nicht gefährdet werden soll. Die Pharmaindustrie ist ja ein bedeutender Wirtschaftszweig – in Deutschland nach der Autoindustrie der zweitwichtigste. Da wird sehr viel Geld umgesetzt, sehr viel Profit gemacht, der durch die Heilpflanze Cannabis nicht geschmälert werden soll.
Das sind die beiden Hauptwiderstände. Ich vergleiche die Auswirkungen dieses pharmaindustriellen Komplexes – den schon Ivan Illich 1976 angesprochen hat – mit der Landwirtschaftsindustrie. Der Ackerboden und die Pflanzen, die wir später essen sollen, werden im Grunde genommen ebenfalls vergiftet – durch Kunstdünger, Pestizide und durch Herbizide wie zum Beispiel das Totalherbizid Glyphosat. Was die Landwirtschaft mit der Natur macht, lässt sich mit dem vergleichen, was der pharmaindustrielle Komplex mit dem Menschen macht.
Wie schätzen Sie aus menschlicher Sicht die gegenwärtige rechtliche Situation in Deutschland ein?
Der Widerspruch zwischen dem Sozialgesetzbuch 5 und dem Betäubungsmittelgesetz muss aufgehoben werden, um die Ärzte in ihrer Arbeit nicht weiterhin zu behindern. Cannabis sollte aus dem BtMG und dem Strafgesetz gestrichen werden, sodass Ärzte es verschreiben dürfen. Und wenn das geschehen ist, können auch die Menschen, die sich dazu in der Lage fühlen, geeignete Sorten eigenständig anbauen – also Sorten mit einem gesunden Verhältnis von THC zu CBD und mit dem niedrigen THC-Gehalt der ursprünglichen Pflanze.
Man könnte von staatlicher Seite gewisse Einschränkungen machen, den Anbau zum Beispiel auf fünf Pflanzen im Jahr oder auf das, was der einzelne Patient eben zur Behandlung benötigt, beschränken. Kleine Ausnahme: Für die 78-jährige schwerkranke Patientin, die selber nicht in der Lage ist, Cannabis anzubauen, weil sie nicht weiß, wie das geht, oder die nicht warten kann, bis die Pflanze erntereif ist, sollte Cannabis weiterhin in der Apotheke zu kaufen sein.
Der Selbstanbau ist meiner Meinung nach ein Naturrecht. Wir haben ja auch ein Recht auf sauberes Wasser und Luft, selbst wenn es nicht immer eingehalten wird: Denken Sie an Stuttgart, an das Dieselfahrverbot oder an die Länder, in denen sauberes Wasser kaum zur Verfügung steht. Alles das, was die Natur uns bietet: Wasser, Luft, Nahrungsmittel oder pflanzliche und mineralische Heilmittel sind ein Menschenrecht. Der Staat hat dafür zu sorgen, dass dieses Menschenrecht gewährt und nicht wie derzeit unterbunden wird. Das ist in meinen Augen auch ein Maßstab für Demokratie: Alle vier Jahre dürfen die Bürger ein Kreuzchen machen – und dann bestimmen wieder diejenigen, die ihre Meinung durch den Lobbyismus erlangt haben. Das ist keine Herrschaft des Volkes.
Zu Manfred van Treek
1978–1985: Medizinstudium in Gießen
1985–1991: Weiterbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin
Zusatzbezeichnungen: Naturheilverfahren, Umweltmedizin, Sportmedizin, Palliativmedizin, Suchtmedizin (Fachkunde).
Seit Januar 1992: Niederlassung in eigener Praxis.
Mitglied des Präsidiums und des wissenschaftlichen Beirats des Deutschen Naturheilbundes.
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